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Glossar

Im Glossar erläutert IDA zentrale Begriffe aus seinen Arbeitsbereichen kurz und verständlich. Das Glossar wird kontinuierlich erweitert und aktualisiert. Sie vermissen einen Begriff? Schreiben Sie uns einfach an Info(at)IDAeV.de.

Ambiguitätstoleranz

Ambiguitätstoleranz ist ein Konzept, das die Sozialpsychologin Else Frenkel-Brunswick Ende der 1940er Jahre u. a. im Rahmen ihrer Arbeiten an der Studie The Authoritarian Personality ausgearbeitet hat. Es bezeichnet die Fähigkeit von Menschen, Uneindeutigkeiten, Mehrdeutigkeiten, Widersprüche, Unentscheidarkeit und Vagheit (d. h. Ambiguität) auszuhalten und mit ihnen konstruktiv umzugehen, ja sie sogar aktiv zu suchen und zu genießen. Die Neigung, Uneindeutigkeiten abzuwehren und zu vermeiden, wird hingegen Ambiguitätsintoleranz genannt.

Während Ambiguitäts(in)toleranz die kognitive, verstandesmäßige Dimension des Erlebens von Ambiguität meint, bezieht sich Ambivalenz(in)toleranz auf den Umgang mit den ambivalenten Emotionen, die mit der Erfahrung von Ambiguität einhergehen. Menschen, die gut mit sich widersprechenden Gefühlen umgehen können, die also ambivalenztolerant sind, können auch Ambiguität besser verarbeiten.

Ambiguitätstoleranz hängt eng mit Formen der Diskriminierung wie Rassismus oder Sexismus und Phänomenen des Autoritarismus wie Rechtsextremismus und religiösem Fundamentalismus zusammen. Ambiguitätstoleranz bildet aber nicht ihre Ursache in Form eines Ursache-Wirkung-Zusammenhangs. Vielmehr drückt sich in ihnen Ambiguitätstoleranz aus. Bspw. gibt Rassismus vor, Menschen eindeutig und umfassend definieren zu können, sei es in ihrer Zugehörigkeit, in ihren Eigenschaften oder in ihrem Verhalten. Ähnlich funktioniert Sexismus, der behauptet, Menschen anhand ihres Körpers genau zwei Geschlechtern, Geschlechtsrollen, Geschlechtsausdrücken und Geschlechtsidentitäten zuordnen zu können. Rassismus und andere Formen von Diskriminierung und Autoritarismusvereindeutigen also die unendliche Vieldeutigkeit der Welt.

Es kann jedoch nicht nur psychologisch untersucht werden, wie Menschen mit Ambiguität umgehen. Daneben kann auch sozial- und kulturwissenschaftlich gefragt werden, wie Gesellschaften Ambiguität handhaben. Dabei zeigt sich, dass „der Westen“ seit dem 17. Jahrhundert ein historisch unerreichtes Streben nach eindeutigen, unhinterfragbaren und universell gültigen Wahrheiten begann. Das Ausradieren von Uneindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten zeigte sich in der wissenschaftlichen Erfassung und Klassifikation aller natürlichen Erscheinungen, wie es für das Denken der Aufklärung charakteristisch war. Dieses Streben betraf schließlich auch den Menschen, als der moderne Rassismus die Menschheit in „Rassen“ mit festen Zugehörigkeitskriterien und Eigenschaften einteilte. Das Streben nach Gewissheit zeigte sich auch im Kontakt des Westens mit anderen Zivilisationen, indem die Kolonisator:innen den Kolonisierten als Reaktion auf in ihren Augen uneindeutige Geschlechtsidentitäten, -rollen, -ausdrücke und Formen des Begehrens die eigenen binären Vorstellungen von Geschlecht und Begehren aufzwangen – mit verheerenden Folgen bis heute (siehe auch Gender, Kolonialismus und Postkolonialismus).

Synonyme: Ambiguitätsintoleranz, Ambivalenztoleranz, Ambivalenzintoleranz, Widerspruchstoleranz, Unsicherheitstoleranz