Antialevitischer Rassismus ist eine individuelle und strukturelleDiskriminierungsform gegenüber Menschen, die dem Alevit:innentum zugehörig sind bzw. als alevitisch markiert werden. Schätzungen zufolge leben in Deutschland etwa 700.000 Alevit:innen. Insbesondere in der Türkei hat die Unterdrückung der Alevit:innen als religiöse Minderheit eine lange Geschichte. Durch die Migrationsbewegungen aus der Türkei seit den 1960er Jahren kommt es auch in Deutschland vermehrt zu Fällen von antialevitischem Rassismus.
Lange hielten Alevit:innen ihren Glauben auch in Deutschland weitgehend verborgen – aus Sorge, die gleichen Diskriminierungen zu erleben wie in ihrem Herkunftsland. Diese Strategie, ihren eigenen Glauben zu verheimlichen wird als „takiye“ bezeichnet und war unter Alevit:innen sehr gängig. Seit den 1990er Jahren jedoch begannen in Deutschland lebende Alevit:innen, sich u.a. gewerkschaftlich und in eigenen Verbänden zu organisieren. Ein zentraler Auslöser war der Brandanschlag von Sivas (Türkei) im Jahr 1993, bei dem islamistisch-nationalistische Angreifende 33 Alevit:innen ermordeten. Neben Sivas gelten auch das Pogrom von Maraş (Türkei) 1978, bei dem gezielt Alevit:innen getötet wurden und der Genozid in Dersim/Dêsım (Türkei) 1937/1938 als einschneidende historische Ereignisse der Unterdrückung und Verfolgung von Alevit:innen.
Einerseits erleben Alevit:innen in Deutschland rassistische Diskriminierung vonseiten der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft. Dieser antialevitische Rassismus zeigt sich vor allem darin, dass Alevit:innen pauschal als Muslim:innen oder Ausländer:innen fremdbezeichnet werden. Dadurch wird ihnen zum einen ihre spezifische religiöse Identität aberkannt, zum anderen erleben sie antimuslimischen Rassismus. Durch das Aberkennen ihrer Identität bleiben Alevit:innen in politischen, kulturellen und sozialen Strukturen unsichtbar. Diese Unsichtbarkeit schlägt sich auch in mangelnder Repräsentation und Teilhabe nieder.
Andererseits erfahren Alevit:innen Stigmatisierungen und Diskriminierung innerhalb der türkeistämmigen Community in Deutschland, z.B. durch türkische Nationalist:innen, Rechtsextreme oder Islamist:innen. Alevit:innen wird vorgeworfen, sie seien keine „richtigen“ Türk:innen oder ihr Lebensstil und ihr Glauben werden abgewertet. Das Alevit:innentum unterscheidet sich in seinen grundlegenden Glaubensvorstellungen und religiösen Praktiken deutlich vom sunnitischen und schiitischen Islam und ist eine eigenständige Religion, die insbesondere innerhalb der türkischstämmigen Community häufig abgewertet wird. Gegenüber dem Alevit:innentum verfestigen sich Vorurteile und Abwertungsmechanismen. Ein besonders verbreitetes Vorurteil in Bezug auf den alevitischen Glauben ist „Mum Söndü“ (deutsch: „Die Kerzen sind aus“). Es unterstellt, dass während der religiösen Zeremonien (Cems), in denen zu einem bestimmten Zeitpunkt die Kerzen gelöscht werden, im Dunkeln Inzest stattfände. Im Jahr 2007 demonstrierten in Köln etwa 40.000 Menschen gegen einen „Tatort“-Krimi, der genau dieses Vorurteil gegenüber Alevit:innen reproduzierte. Bis heute wird es in unterschiedlichen Kontexten immer wieder aufgegriffen und wiedergegeben. Das zeigt, dass diese antialevitschen Vorurteile auch von der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft aufrechterhalten werden.
Antialevitischer Rassismus zeigt sich somit auf individueller Ebene, etwa durch persönliche Zuschreibungen, Abwertungen oder Drohungen. Auf struktureller Ebene wird er durch institutionelle Unsichtbarmachung, mangelnde Repräsentation oder gezielte Angriffe auf alevitische Einrichtungen, Wohnhäuser oder Gräber verfestigt.
Zudem ist es wichtig, die Diskriminierung von Alevit:innen intersektional zu betrachten. Alevitische Frauen z.B. sind häufig gleichzeitig von antialevitischem Rassismus und Sexismus betroffen, etwa wenn ihr Glaube zum Anlass genommen wird, sie zu (über)sexualisieren. Alevitische Kurd:innen werden darüber hinaus nicht nur religiös und mit Bezug auf das Geschlecht, sondern auch ethnisch abgewertet. Denn aus türkisch-nationalistischer Sicht fehlt ihnen sowohl die „richtige“ Religion als auch die „richtige“ Ethnizität.
