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NSU-Berichterstattung

Medienanalyse - Die NSU-Morde in den türkischen Medien

Von Mehmet Ata

Als im November 2011 bekannt wurde, dass der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) für die Morde an sieben türkischstämmigen und einem griechischstämmigen Kleingewerbetreibenden sowie an einer deutschen Polizistin verantwortlich ist, war die Verunsicherung insbesondere unter den Menschen mit türkischem Migrationshintergrund groß. In den deutschen Massenmedien blieb ihre Perspektive auf die Morde jedoch unterrepräsentiert, auch wenn vereinzelt Angehörige der Opfer zu Wort kamen.

Der vorliegende Text wirft einen Blick darauf, welche Folgen die Taten für die Migrantenbevölkerung in Deutschland hatten. Dazu wird die Berichterstattung von vier türkischen Zeitungen untersucht. Ziel ist es einerseits, migrantische Stimmen, die in deutschen Medien nicht zitiert wurden, zu sammeln. Dies können Opfer, Angehörige oder Politiker:innen bzw. Aktivist:innen mit Migrationshintergrund sein. Zum anderen geht der Text davon aus, dass die türkischen Medien maßgeblich zur Meinungsbildung der Migrant:innen in Deutschland beigetragen haben. Eine Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Data4U im Auftrag der Hacettepe Universität (Ankara, Türkei) hat ergeben, dass sich 87 Prozent der türkischen Migrant:innen die Ereignisse, die mit den NSU-Morden in Verbindung stehen, „hautnah verfolgen“ und dass ihre Quellen überwiegend türkische Medien sind (vgl. https://www.data4u-online.de/wp-content/uploads/2012/02/Pressemitteilung-11012012-2.pdf).

Wichtige Aspekte bei der Untersuchung werden das vermittelte Deutschlandbild, die Verknüpfungen zu anderen Diskursen sowie Begriffsverwendungen sein. Darüber hinaus wird der Frage nachzugehen sein, ob die NSU-Morde in einen Kontext gestellt werden, insbesondere welche Verbindung zur anderen rassistischen Organisationen und Taten gesehen wird. Auch die Frage, wie Täter und Opfer dargestellt werden, ist von Bedeutung.

Auswahl der Zeitungen

Untersucht wurden die Zeitungen Sabah, Yeni Hayat, Zaman und Hürriyet. Somit wird garantiert, dass ein großes Meinungsspektrum abgedeckt wird. Alle untersuchten Zeitungen werden (auch) in Deutschland vertrieben. Zudem haben die Sabah und die Hürriyet einen festen Platz beim NSU-Prozess erhalten – Yeni Hayat hat durch ihre Schwesterzeitung Evrensel auch einen Platz im Gerichtssaal (der Journalist Yücel Özdemir schrieb sowohl für die Evrensel als auch für Yeni Hayat). Untersucht wurde der Zeitraum von November 2011 bis Dezember 2013.

Der Materialzugang erwies sich als schwierig. Anfragen bei mehreren türkischen Zeitungen verliefen ins Leere. Nach mehrmaligem Nachfragen teilte man dort jeweils mit, dass das Thema „sehr sensibel“ sei und man sich zurückhalten wolle. Das Zeitungsarchiv des türkischen Parlaments hat auf eine Anfrage nicht reagiert. Daher mussten wir auf eine Datenbanksuche auf den Internetseiten der Zeitungen ausweichen. Lediglich Yeni Hayat hat PDF-Seiten mit ihren Artikeln zu den NSU-Morden zur Verfügung gestellt.

Die Sabah (Der Morgen) ist eine AKP-nahe Tageszeitung mit einer Boulevard-Aufmachung. Sie gehört seit 2008 zur Çalık-Gruppe, die auch im Textil-, Bau-, Energie- und Finanzsektor aktiv ist. Die 1985 gegründete Zeitung ist mit 340.000 verkauften Exemplaren täglich die viertgrößte Zeitung der Türkei. In Deutschland erreicht sie nach eigenen Aussagen etwa 60.000 Leser:innen. Yeni Hayat (Neues Leben) ist eine 14-tägig erscheinende deutsch-türkische Zeitung mit Sitz in Köln, sie ist weit links im politischen Spektrum zu verorten. Die Yeni Hayat steht der Migrant:innenorganisation DIDF nahe. Die Zeitung erreicht nach Angaben ihres Redakteurs Yücel Özdemir eine Auflage von 1500 Exemplaren. Die vorliegende Untersuchung hat ausschließlich türkische Artikel aus der Zeitung analysiert, da diese von den Leser:innen der Zeitung stärker wahrgenommen werden, wie auch die Redaktion bestätigt. Die islamisch-konservative Zaman (Zeit) ist mit etwas mehr als eine Million verkauften Exemplaren täglich die größte Tageszeitung in der Türkei. In Deutschland hat sie laut der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern eine verkaufte Auflage von knapp 30.000. Die Zaman wird der islamischen Bewegung des Predigers Fethullah Gülen zugerechnet. Im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Gülen und dem türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan hat sich die Zeitung in der jüngeren Vergangenheit sehr regierungskritisch positioniert. Die Hürriyet (Freiheit) gehört zur Doğan-Holding und ist mit mehr als 400.000 verkauften Exemplaren die drittgrößte in der Türkei. Die Boulevard-Zeitung, die bereits 1948 gegründet wurde, positioniert sich traditionell regierungsnah. Sie hat sich in der Vergangenheit immer wieder den häufig wechselnden Mehrheiten im türkischen Parlament angepasst. Zur regierenden AKP hält sie jedoch Abstand.

Sabah

Yeni Hayat

Zaman

Hürriyet

Fazit

In allen untersuchten Zeitungen zeigte sich, dass Rassismus auch über den NSU hinaus thematisiert wurde. Am stärksten war dies bei der Yeni Hayat der Fall. Die Zeitung stellte die NSU-Morde in eine Reihe mit anderen rechten Gewalttaten. Bereits in einer Ausgabe Ende November rief die Zeitung im Zusammenhang mit dem NSU zu einer Abrechnung mit Rassismus auf. Die Zeitung forderte zudem stetig ein Verbot der NPD. Auch die Zaman griff Rassismus häufig auf und räumte der Diskussion um die NPD viel Raum ein. Sie blieb dabei aber fast immer nachrichtlich und polemisierte nicht.

Alle Zeitungen stellten eine Verbindung zu dem rechtsextrem motivierten Anschlag von Solingen her. Der Brandanschlag ist tief im kollektiven Gedächtnis der Migrant:innen verankert, wie die NSU-Berichterstattung deutlich machte. Es ist davon auszugehen, dass die Angst von Migrant:innen durch diese Erinnerung wächst. Denn die Menschen leben in dem Bewusstsein, dass Gewalttaten gegen ihresgleichen sich wiederholen können. Einige Opferangehörige wurden durch die Morde politisiert, wie die Beispiele von Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek zeigten. Vermutlich wurden auch viele andere Menschen mit Migrationshintergrund durch die Morde und durch das Versagen der Sicherheitsbehörden politisiert. Dies alles bietet sicherlich Anknüpfungspunkte für Verbände, die sich mit Rassismus beschäftigen.

Viele Migrant:nnen haben zweifellos ihr Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden verloren. Am ausführlichsten hat die Zaman ihr Versagen beschrieben. Auch für Yeni Hayat war dies ein wichtiges Thema. In kaum einer Ausgabe fehlte die Thematisierung der Rolle der Sicherheitsbehörden. Wie weiter oben dargelegt, hängt es von den Resultaten des NSU-Prozesses ab, ob neues Vertrauen gewonnen werden kann.

Das Versagen der Sicherheitsbehörden führte zwangsläufig zu einem negativen Deutschland-Bild in den türkischen Medien. Doch insgesamt ist zu sagen, dass die Zeitungen das Polemisierungspotenzial des Themas nicht ausnutzen. Es gab keine Nazi-Vergleiche über Deutschland als ganzes. Zugleich haben die Zeitungen versucht, auch ein positives Deutschland-Bild zu zeichnen. In der Yeni Hayat und der Zaman geschah dies vor allem durch Berichte über Demonstrationen und Mahnwachen, an denen Deutsche und Migrant:innen teilnahmen. In der Hürriyet – und da vor allem zu Beginn des Untersuchungszeitraums – darüber, dass deutsche Politiker:innen wohlwollend zitiert wurden. Es war zu beobachten, dass die türkischen Zeitungen im Untersuchungszeitraum zunehmend kritischer über die Rolle der Sicherheitsbehörden berichteten, am auffälligsten war dies in der Hürriyet der Fall.

Die Darstellung von Beate Zschäpe war vergleichsweise zurückhaltend. Sie wurde nicht entmenschlicht und als Monster dargestellt, sondern lediglich als kalt und berechnend. In der Sabah waren einzelne nationalistische Töne vernehmbar, als es um die Platzvergabe beim NSU-Prozess im Münchener Landgericht ging.

Die Sabah zitierte häufig Opfer und ihre Angehörigen. Ihre Sicht auf die Taten war besonders zu Beginn des Untersuchungszeitraums und zu Beginn des NSU-Prozesses sehr präsent. Damit erhielten die Berichte eine menschliche Dimension. Es fällt auf, dass die Betroffenen besonders oft von Trauer sprechen, weniger von Wut. Dies deckt sich mit der Untersuchung der Hacettepe Universtität zu Migrant:innen in Deutschland. Diese Gefühlslage könnte eine Erklärung dafür sein, warum die Taten und ihre Aufarbeitung in der türkischen Community nicht zu politischen Aktionen geführt haben. Trauer ist ein Gefühl, das man am ehesten mit sich selber ausmacht.

Yeni Hayat und Zaman ließen nur selten Opferangehörige zu Wort kommen. Yeni Hayat vermutlich, weil sie in den Taten und im Umgang der Sicherheitsbehörden einen systematischen Fehler in der Gesellschaft und kein Einzelschicksal sah. Opfer wurden für die Yeni Hayat erst interessant, wenn sie sich politisch engagierten. Auch die Zaman scheint ein systematisches Problem zu sehen. Bei ihr kam jedoch eine Elitenfixierung (die es auch in den meisten deutschen Zeitungen gibt) hinzu. Das zeigen die vielen zitierten Stellungnahmen von Amts- und Mandatsträgern in der Zeitung.

Es wurde deutlich, dass die türkischen Zeitungen Probleme hatten, passende Begriffe für die Täter und die Taten zu finden. Die Sabah sprach zu Beginn des Untersuchungszeitraums sogar von Döner-Morden, ohne wenigstens Anführungszeichen zu benutzen. Später experimentierte sie mit verschiedenen Begriff, darunter auch mit „türkischen Morden“. Die Zaman setzte „Döner-Morde“ in Anführungszeichen, brauchte aber drei Monate, um Alternativbegriffe zu finden.

Dieser Text als PDF.

Diskursanalyse zur Berichterstattung über die NSU-Morde